Ich weiß, was für Euch das Beste ist...

Transformationsbegleitung (7) 

bird 4313897 1280

Wenn Autonomie nicht erwünscht ist...

Bei der vierten Variante, wie sich traumatisierte Teams organisieren können, geht es um den Umgang mit autonomen Bestrebungen. Auch hier spielt die Kopplung zwischen psychischem und sozialem System und die Führungskraft wieder eine große Rolle. Ich habe ein Beispiel aus einer technischen Prüfabteilung, die im Zuge eines Changeprozesses des Gesamtbereiches noch einen großen Schritt vor sich hat. Bislang war der Chef in enger Führung der Prüfer jedes Schrittes... die Mitarbeitenden waren damit so sicher im Tun wie die Marionetten im Bild.

Ein Verhaltensmerkmal, wenn Menschen sich in die Autonomie-Überlebensstruktur begeben, beschreiben Heller und Lapierre (s.u.) so: Sie „Verwechseln die fehlende Bereitschaft für sich selbst einzutreten, mit Flexibilität“. Diese Verwechslung zeugt davon, dass sie in dem Moment, wo sie sich anpassen, gar nicht merken, dass sie ihre eigenen Bestrebungen ausgeschaltet haben. Menschen, die nicht erlebt haben und nicht erleben, dass sie selbst entscheiden können, projizieren die Autorität auf andere. Ihnen folgen sie blind – nicht selten mit einer Prise „passiver Aggression“ und oft mit Mühe und Anstrengung – während sie nicht immer mit offenen Karten spielen, um so doch noch ein klein wenig innere Autonomie wahren zu können.

Wenn ich an das genannte Team der technischen Prüfabteilung denke, dann sehe ich sie vor mir, diese überaus fachkompetenten Menschen, wie sie da sitzen und abwarten, was die anderen und insbesondere ihr Chef sagt. Erst nachdem er gesprochen hat, melden sie sich zu  Wort - bestätigend. Unabhängig von ihm sitzen sie still. Einmal war es sogar so, dass bei einer Terminierung im offiziellen Rahmen der Sitzung „Ja“ zum Datum gesagt wurde, während direkt im Anschluss informell kommuniziert wurde, dass der Termin überhaupt nicht realisierbar war. Für unseren angestrebten Prozess erwies sich als besonders mühsam, dass die Teammitglieder dieser Abteilung keine eigenen Ideen mit einfließen ließen.

Wie kommt es zu jenem Organisationsprinzip von Teams?

Wie bei allen Organisationsprinzipien des NARM®-Konzepts bei Entwicklung- und Bindungstraumata haben auch hier die Individuen adaptive, anpassende Verhaltensmechanismen entwickelt, um dem Mangel an Bindung und Entwicklungsraum zu begegnen - in diesem Falle die sanktionsfreie Möglichkeit einer Selbstäußerung jenseits der elterlichen Erwartungen. Wir alle haben mehr oder weniger die Erfahrung gemacht, dass wir uns anpassen müssen: Bezogene Individuation zu erlernen (Helm Stierlin) bzw. die Ambivalenz zwischen Autonomie und Zugehörigkeit auszutarieren, ist unser aller Aufgabe. Die Betonung liegt auf „mehr oder weniger“. Wurde der persönliche Selbstausdruck entweder kaum bis gar nicht beachtet oder aber immer etwas anderes erwartet als das, was man selbst anbieten wollte, so führt dies zu einer besonderen Anfälligkeit, sich genau so ein Umfeld wieder zu suchen bzw. es zu reinszenieren. Und so landet man in einem Bereich, der besonders für das Thema „Kontrolle“ steht, in einem Bereich, in dem hohe Anpassung erforderlich ist.

Und wenn nun dort ein Chef genau das bekannte Muster weiter produziert, indem er…

…eigene Ideen und Meinungen abstraft,

… Gehorsam und Anpassung verlangt

…abweichende Meinungen mit „Liebesverlust“ oder besser gesagt „Anerkennungsverlust“ straft.

Dann entwickelt sich eine starke Gehorsamskultur. Unser Teamleiter aus dem Beispiel war sehr väterlich und beanspruchte wahrscheinlich für sich „Ich weiß, was für Euch gut ist. Ich entscheide das Beste für Euch.“ In dieser Prägung war das Team immer sicher und gut aufgehoben, doch hat es weit unter seinen Möglichkeiten gearbeitet. Das Ergebnis der Prägung durch eine solche Führungskraft sind folgende Teamnormen:

  • Wer „Nein“ sagt und Grenzen setzt, gehört nicht dazu.
  • Die Meinung wird nur von vorn vorgegeben.

Auch hier gibt es wieder auf Scham basierende Identifizierungen:

  • Scham für das Eigensein
  • Scham davor, in der Tiefe die Autorität für seine Rolle zu verabscheuen
  • Angst und Scham vor spontanem Selbstausdruck
  • Angst vor Nähe, weil diese die totale Vereinnahmung bedeuten könnte.

Das alles bedeutet einen hohen Energieverlust durch innere Zerrissenheit.

Und auf Stolz basierende Identifizierungen:

  • Stolz auf die Anpassung
  • Stolz auf das Aushalten derselben mit dem Selbstbild: „Wir sind so flexibel, wir können dem Chef überallhin folgen“

Autonomie und Zugehörigkeit gehören zusammen

In der folgenden Übersicht sehen Sie das Entwicklungs- und Wertequadrat zu den beiden Polen „Für sich eintreten“ und „Sich anpassen“. Beide Pole sind wertvoll, sollten sich ergänzen und ein Team und seine Mitglieder sollten damit spielen können. Fehlt das „Sich anpassen“, so führt das „Für sich eintreten“ zu Sturheit. Fehlt jedoch das „Für sich eintreten“, so führt die Anpassung letztendlich in eine Selbstaufgabe. Beides hat Folgen für das Team, welche in meinem Modell vereinfacht unten in gelber Farbe umrandet dargestellt sind: Potentiale gehen so oder so verloren.

Das Ziel einer Zusammenarbeit ist es, eine Kooperationsform zu finden, in der die Potentiale gut gehoben und vernetzt und werden und emergieren können.

Autonomie 2

Interessanterweise hat die Transaktionsanalyse den Begriff der Autonomie bereits weit über die landläufige Bedeutung von „Unabhängigkeit“ so definiert, dass zu einer gelebten Autonomie der nährende Austausch und die Bezogenheit bereits dazu gehören.

Doch dieses Oszillieren von „Für sich eintreten“ und „Sich anpassen“, dieses Spiel von Ich und Du zum Wir, ist mit gutem Willen allein aus der alten Organisationsstruktur nicht herbeiführbar – handelt es sich doch um einen Kulturwandel, der eine tiefgreifende Veränderung, eine Transformation beinhaltet.

Was kann Prozessbegleitung bzw. die Führungskraft in einem solchen Fall tun?

Ich antworte hier mit dem Instrument des GPA (vgl. „Mut zu Inner Work“, s.u.) mit den Elementen Fühlen/Emotionen,  Denken/Glaubenssätze, Handeln/Struktur und der Weisheit.  

Emotionale Aspekte/Vertrauensbildende Maßnahmen:

Auch hier ist psychologische Sicherheit das Fundament der Prozessarbeit. Es muss die Erfahrung gemacht werden, dass sich einander in großer Qualität zugehört wird und sowohl zum Ausdruck gebrachte Grenzen wie auch Möglichkeiten eine Resonanz in der Beziehung erfahren. Dazu gehört das Gegenteil von Druck – wozu Verlangsamung, arbeiten an Vertrautem und informelle Räume beitragen. Das Erleben von Leichtigkeit, unbewerteter Spontaneität und Lachen ist ebenso wertvoll. Die Verlangsamung kann auch durch Nachfragen herbeigeführt werden. Nachfragen führen zum Gewahrwerden, zur Bewusstwerdung dessen, was im Gegenüber wirklich vorgeht – und erst dann kann es auch in die Kommunikation kommen.

Denken / Glaubenssätze:

Der alte Glaubenssatz „Es geht um die Kontrolle von Richtig und Falsch“ sollte gewürdigt und gleichzeitig durch Erfahrungen ergänzt werden. Die Ergänzung sollte hilfreicherweise rund um die Erlaubnis von Selbstäußerungen ranken, wie etwa „Eigene Beiträge – und klingen sie noch so fremd und eigen – sind willkommen.“. Hierzu gibt es ferner unterstützende spielerische Interventionen, die uns mit dem Unvertrauten vertraut machen (vgl. „Mut zu Inner Work“).

Auch gilt es, bewusst zu machen, wozu das Prüfen und Kontrollieren dient – und ab wann es etwas verhindert. Das Prüfen und Kontrollieren hat zum einen im Sinne der Aufgabe einen Nutzen – im Weiteren auch einen psychologischen. Um letzteren besprechbar zu machen, ist eine professionelle Begleitung hilfreich.

Handeln/Strukturelle Maßnahmen:

Da die Führungskraft der Abteilung eine prägende Kraft ist, die als Autoritätsperson bei den Mitarbeitenden oft in die Verwechslung mit alten Eltern-Erfahrungen gerät, ist gerade das Mindset der Führungskraft wichtig. Ist sie für ein Coaching zugänglich? Wie bereitwillig lässt sie sich auf diesen Change des Bereiches ein? Wir wissen, dass wir niemanden etwas einreden können – das psychische System ist „operativ geschlossen“ und nur über anschlussfähige Kopplungen erreichbar.

Eine Arbeit in Einzelprojekte in teamgemischter Zusammensetzung ermöglicht die Erfahrung einer anderen als der prüfenden und kontrollierenden Kultur. So wird die Brauchbarkeit anderen Denkens und Handelns erfahrbar.

Der Erfolg des neuen Verhaltens in solchen gemischten Projektteams, der Gewinn des Sich-selbst-zur-Verfügung-stellens führt zu Dopaminausschüttungen, die eine Belohnung darstellen, die nach Mehr davon verlangt. So ein möglicher Plan.

Weisheit:

Die Weisheit der Unverfügbarkeit besagt jedoch, dass wir nichts „machen“ können, sondern Räume dafür herstellen können, in denen sich etwas entwickeln kann. Bei genauerer Betrachtung geht wahrscheinlich schon etwas – gibt es bereits Ausnahmen vom hinderlichen Verhalten. Das zu mehren ist hilfreich. Zur Weisheit gehört nämlich auch das Vertrauen darin, dass sich die Lösungen dann, wenn die Spannungen im richtigen Maße gespürt werden, finden werden. Wir als Prozessbegleitende - sei es als Beraterin oder als höhere Führungskraft - sind möglichst ein förderlicher Rahmen dabei.

Das Buch zu Inner Work:

Mut zu Inner Work. Die Hindernisse zur Transformation überschreiten.

Der Podcast dazu:

Lea Podcast mit Andrea Hötger und Christina Grubendorfer

Meine Inner-Work-Beratungen und Fortbildungen:

https://www.transformation-companion.de/

Zum Weiterlesen:

Volker Hepp: Drei Formen von Organisationstraumata. In: Hartung, Stephanie: Trauma in der Arbeitswelt. Springer Gabler 2018.

Alles von Laurence Heller zu Entwicklungstraumata.