Wir brauchen nichts... oder doch?

Transformationsbegleitung (5) 

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Wenn Mangel der Normalzustand ist

Wie sind Sie eigentlich aufeinander eingestimmt in Ihrem Team? Ist die Kommunikation zwischen Führungskraft und Mitarbeitenden „stimmig“?  In diesem Blog geht es um Resonanz auf Bedürfnisse – und was passiert, wenn sich in eine Team Menschen sammeln, die die Erfahrung eint, dass sich so recht niemand auf sie eingestimmt hat – und diese Erfahrung wiederholen. - So manche scheinen so bedüftig wie die Gans hier im Bild.

Es war ein Team eines Pflegekinderdienstes. Wenn ich daran denke, so habe ich Frauen vor Augen, die aus meiner heutigen Wahrnehmung alle eine leicht gebeugte Haltung hatten und leicht bis schwer übergewichtig waren – bis auf eine, die war ausgesprochen dünn. Ich überprüfe mich gerade, ob ich ein Klischee zeichne oder ob das Team selbst dieses Klischee gezeichnet hat – und entscheide mich für zweitere Variante, nachdem ich die Einzelnen vor meinem geistigen Auge vorbeiziehen lasse. Ich begleitete dieses Team wohl zwei Jahre lang. Supervision gehörte zum Standard der Qualitätssicherung.

Das Auffälligste in diesem Team war für mich, dass es zwar die ganze Zeit latent eine Unzufriedenheit ausstrahlte und Forderungen andeutete - im letzten zog es seine Ansprüche jedoch immer wieder zurück. Interessanterweise brachte jedes Mal jemand einen "ordentlichen" Kuchen mit, der in den Pausen verspeist wurde… wenn schon die anderen Bedürfnisse nicht zur Erfüllung kommen…

Das zweite Organisationsprinzip im Konzept des NARM®- Konzepts zu Entwicklungs- und Bindungstraumata ist das der „Einstimmung“. Als Sängerin kann ich viel mit diesem Wort anfangen: Dass man mit einstimmt in den Gesang, in das Tempo, die Stimmfarbe und die Dynamik der Anderen. Das Bedarf guten Zuhörens, sich Einfühlens, körperlich den Atem, die Haltung mit aufzunehmen. An anderer Stelle in meinen Blogs habe ich schon von Resonanz gesprochen. Und genau die brauchen wir als Kind. Es geht darum, dass wir mit unseren Bedürfnissen gesehen werden. Und da geht es um das Bedürfnis nach körperlicher und seelischer Nahrung. Nach gesehen und gehört werden in den ureigensten Bedürfnissen und später auch Fähigkeiten und Bestrebungen. Oft führen Trennungen von der Bindungsperson oder emotional unzulängliche Eltern zu einem Bindungstrauma – und nicht zuletzt solche Biografien wie Pflegekinder sie mitbringen. Da hat sich jemand nicht einstimmen können auf die Bedürfnisse des Kindes. Der Lerneffekt daraus: Ich kann soviel rufen und schreien nach dem, was ich brauche – es gibt mir sowieso niemand. Manchmal weiß ich selbst gar nicht, was ich überhaupt brauche - ich merke es schon gar nicht mehr. Und wenn ich es merke, dann sage ich es lieber nicht laut – es wird sowieso nicht erfüllt. Der Einsatz lohnt nicht.

Und so war es in diesem Team auch. Es gab keinerlei Resonanz auf die emotionalen und sozialen Leistungen des Teams – die Leistungen, die Ihnen am Herzen lagen und für die sie bessere Bedingungen brauchten (Ausgleich für Fahrten zu den Familien, die eigene Büroausstattung) . Sie wurden darin nicht gesehen und gehört. Stattdessen wurde auf die Formalia und Administratives gepocht. Dort wurde Optimierung gefordert. Da wiederholte sich etwas. Und da spiegelte sich auch etwas aus der Klientengruppe: Der Umgang mit Mangel an Einstimmung schien ein vertrautes Terrain zu sein.

Und so hat sich in der Arbeitswelt ein für alle vertrautes System gebildet, welches zwischen Führungskraft und Mitarbeitenden daraus besteht, nicht gesehen zu werden und die Bedürfnisse nicht klar und beharrlich zum Ausdruck zu bringen.

Bei in der Kindheit entscheidend fehlender Einstimmung können sich folgende Identifizierungen entwickeln:

  1. Bei Auf Scham basierende Identifizierungen fühlen sich die Betroffenen häufig bedürftig, unerfüllt und leer und haben die Sehnsucht, dass sie endlich das bekommen, was sie brauchen. Die Personen glauben, dass sie dann endlich glücklich werden. Man könnte von einer Opferrolle sprechen.
  2. Auf Stolz basierende Identifizierungen führen dazu, dass man die Bedürfnisse leugnet. „Wir sind stolz darauf, nichts zu brauchen. Wir können alles auch ohne die anderen.“ Im Gegenteil: „Wir geben den anderen etwas – und zwar das, was sie brauchen – aber wir brauchen niemand keine anderen Menschen.“

Die Bedürfnisse sind jedoch da und werden dann klammheimlich versucht zu bedienen – oft durch Kompensation. Solche Menschen sind schwach im Ausdruck von Wut und im Fordern. Es gibt latent eine Angst vor der Enttäuschung – aber vielleicht auch vor der Erfüllung von Bedürfnissen, denn diese würde eine emotionale Überschwemmung zur Folge haben. Wenn dann doch mal ein Bedürfnis erfüllt wird, dann geschieht oft keine herzliche Dankbarkeit, sondern eher ein abwehrender Schutz vor den Gefühlen einer lang ersehnten Erfahrung. Und so geschieht das, was ich auch in diesem Team erlebt habe: Man hat zwar Wünsche, drückt sie jedoch nicht adäquat aus – höchstens durch Unzufriedenheit. Diese allein müsste doch reichen, damit man ihnen den Wunsch von den Lippen abliest.

„Dinge, die man sich heimlich wünscht, werden unheimlich selten erfüllt.“

Solche Typen sind in helfenden Berufen häufig zu finden, da das Prinzip „Geben, um selbst etwas zu bekommen“ eine Bewältigungsstrategie für den erlebten Mangel ist. Ich erinnere mich da gern an die meinerzeit grundlegende Lektüre der Sozialen Arbeit „Die hilflosen Helfer“ von Wolfgang Schmidtbauer, in der gut darauf geschaut wurde, wer den eigentlich wen braucht: Der Schützling den Helfer oder umgekehrt. Brauche ich als Helferin den Schützling aus einer bedürftigen Position heraus, so besteht die Gefahr einer unprofessionellen „Benutzung“ der Hilfsbedürftigkeit des Anderen.

Doch was tun als Beraterin – hier als Supervisorin?

Wenn Einstimmung der ursprüngliche Mangel war, so ist Einstimmung die erste Antwort auf das Team. Hier versuche ich, wie von Rogers gelernt, personzentriert das Gespräch mittels Spiegelung – oder wie wir es lernten „Verbalisieren emotionaler Gesprächsinhalte“ zu führen. Es geht darum, dass Bedürfnisse wahrgenommen werden und Raum haben. Gerade der Zugang zu Wut ist ein wesentlicher Zugang: Fordern darf sein. Wut auf nicht erfüllte Bedürfnisse darf sein. Und noch davor: Der sorgsame Kontakt mit sich selbst und den Bedürfnissen, die keine Ersatzbedürfnisse sind, darf sein – hier braucht die Supervisorin eine große Unerschrockenheit auch den Gefühlen des Angerührtseins gegenüber, wenn auf einmal Vermischungen zwischen dem beruflichen und persönlichen Mangelerleben emotional zum Ausdruck kommen (ohne dass der persönliche Teil in diesem Kontext thematisiert werden sollte) . Gerade die Supervision im Team kann dann dazu führen, dass sich eine Kultur entwickelt, in der man darauf schaut, welches Grundbedürfnis gerade wirklich ruft und das Selbstfürsorge wesentlich ist – und das viel wesentlicher als der Kuchen es ist, sich in den eigenen Fähigkeiten und Bestrebungen zu sehen.

Auch die Führungskraft kann selbstverständlich etwas tun, um das Team in einen Gestaltermodus zu bringen: Als erstes ist Präsenz wichtig – qualitativ und in realistischem Maße auch quantitativ. Und in dieser Präsenz gilt es, ganz differenziert die Einzelnen in den Blick zu nehmen und auf ganz konkrete Stärken und Vorlieben anzusprechen und miteinander zu schauen, wo dies im Einklang mit der Organisation einen Raum haben kann. Auch die Führungskraft kann das Team fördern, dieses zunehmen in Selbstorganisation ebenfalls zu tun: Sich in den Blick zu nehmen und füreinander zu sorgen.

Der transformatorische Change im Team ist der sich verändernde Glaubenssatz von „Wir dürfen nichts brauchen“ zu „Wenn wir etwas brauchen, sorgen wir in Entschiedenheit für uns. Wir bringen Bedürfnisse am passenden Ort zum Ausdruck. So kann es zur Erfüllung kommen. Und wenn nicht - so bleiben wir dennoch in gutem Kontakt.“  - Das ist dann echte Einstimmung.

Das Buch zu Inner Work:

Mut zu Inner Work. Die Hindernisse zur Transformation überschreiten.

Der Podcast dazu:

Lea Podcast mit Andrea Hötger und Christina Grubendorfer

Meine Inner-Work-Beratungen und Fortbildungen:

https://www.transformation-companion.de/

Zum Weiterlesen:

Volker Hepp: Drei Formen von Organisationstraumata. In: Hartung, Stephanie: Trauma in der Arbeitswelt. Springer Gabler 2018.

Alles von Laurence Heller zu Entwicklungstraumata.