Komplexitätsmanagementkompetenz

Zukunftskompetenzen: Eine Reihe über Kompetenzen und Haltungen für ein sinnvolles Arbeiten und Leben in einer komplexen Welt (9)

art painting 285919 1280

Diese Zukunftskompetenz scheint mir zu den vorherigen übergeordnet zu sein: Die Kompetenz mit Komplexität umzugehen. Systemisch betrachtet ist Komplexität kein objektives Phänomen, sondern kann aus dem Auge des Betrachters unterschiedlich bewertet werden. Doch zunächst fragen wir uns: Was ist überhaupt Komplexität?  Und danach: Welches sind die Kriterien für Komplexitätsmanagementkompetenz?

Wie definieren wir Komplexität?

(Wer das Cynefin-Framework und die Definition von Komplexität schon kennt, gehe sofort zur Überschrift „Kriterien für den Umgang mit Komplexität)

Laut Definition ist dann etwas komplex, wenn die Zusammenhänge der Aspekte und Elemente unüberschaubar und auch veränderbar sind und deren Wechselwirkungen nicht mehr linear nachvollziehbar sind. Es gibt kein eindeutiges „Wenn-Dann“ mehr. Ich kann nicht voraussagen, was passiert, wenn ich handele. Zwar kann ich aufgrund von Erfahrungen eine gewisse Wahrscheinlichkeit von Folgen vermuten – aber es bleibt kontingent was passiert – es kann also immer auch anders sein.

Wenn wir über Komplexität reden, dann läuft im Hintergrund häufig das Cynefin-Framework mit, welches Komplexität von Kompliziertheit und Chaos unterscheidet – und selbstverständlich von Einfachheit. (Eine ausführlichere Version der Matrix finden Sie unter (https://www.linkedin.com/posts/the-cynefin-company_complexity-strategy-cynefin-activity-7169269427144761344-RFjY?utm_source=share&utm_medium=member_desktop )

Das einfache System

Bei einem einfachen System stehen wenige Variablen in einem linearen Ursache-Wirkungs-Zusammenhang. Insofern kann man sicher voraussagen, was passiert, wenn man etwas bestimmtes tut. Weil man den richtigen Weg zum Ziel kennt, sind Handlungsfehler vermeidbar. Auf dieser Ebene hilft Erfahrungsaustausch und die Anwendung von Best Practices. Insofern ist der Handlungsmodus: Erfassen, Kategorisieren und Reagieren angemessen.

Das komplizierte System

Kompliziert ist es dann, wenn die nach wie vor linearen Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge umfangreicher sind und die Analyse eine gewisse Expertise benötigt. Auch hier kann man die zukünftige Funktionsweise vorhersehen – allerdings ist dies weitaus aufwändiger. Differenzierung und Expertentum ist angesagt. Der adäquate Handlungsmodus ist also: Erfassen – Analysieren und dann reagieren.

Das chaotische System

In einem chaotischem System lassen sich nicht alle Dinge beschreiben und es gibt Instabiles. Es lässt sich nicht voraussagen, was passiert – der Zufall reagiert. Die Variablen sind mehrdeutig und nicht-linear und ändern sich schnell. Es kann nicht vorhergesagt werden, ob ein Verhalten richtig ist – Fehler sind vorprogrammiert. Es gilt auf der Handlungsebene zügig etwas zu tun, mit dem Ziel, das System zu stabilisieren. Erst nach dem schnellen Agieren kann ich erfassen und dann wieder reagieren.

Das komplexe System

Was ist nun komplex in Abgrenzung zu kompliziert auf der einen oder chaotisch auf der anderen Seite? Komplex liegt näher am Chaos, weil auch hier eine eindeutige Bewertung nicht stattfinden kann. Jedoch gibt es weniger Variablen. Das System lässt sich noch bis zu einem bestimmten Grad beschreiben, denn die Wechselwirkungen sind aufeinander bezogen. Wir können einige aber nicht alle Elemente miteinander in Verbindung bringen und so können auch hier keine sicheren Zukunftsvoraussagen machen. In einem komplexen System gibt es eine gewisse Stabilität durch Rückkopplungsprozesse, gleichzeitig geschehen jedoch neue Dinge, die wir unter den Begriff Emergenz fassen -  und darum sind Fehler nicht zu vermeiden. Wir können jedoch Hypothesen zu Mustern bilden, sie versuchen zu identifizieren und daraufhin etwas ausprobieren – während im Chaos einfach gehandelt werden muss. Vielleicht können komplizierte Teilsysteme herauskristalisiert werden, um die Komplexität zu verringern. Der Modus ist also Probieren – Erfassen und dann Reagieren.

Kriterien für Komplexitätsmanagementkompetenz

Nach einem Workshop bei Gitta Peyn, die sich auf LinkedIn „Initiatorin für systemisches Denken im 21. Jahrhundert“ nennt, habe ich den Blick auf verschiedene Kriterien Komplexitätsmanagementkompetenz gewonnen (weitere Ausführungen und ihr Stufenmodell sind hier zu finden: Carl-Auer Verlag – Complexity Management – Model, Levels, FORMs) . Spannend finde ich zunächst ihre rein von der Beobachterperspektive gedachte Definition von Komplexität: Es IST nicht etwas komplex, sondern ich ERLEBE etwas als komplex. Ein anderes Wort für Komplexitätsmanagementkompetenz könnte auch das Wort „Entscheidungskompetenz“ in komplexen Situationen heißen. Wie komme ich zu hilfreich wirkenden Entscheidungen in Anbetracht von Komplexität?

Hier sind nun schon die drei wesentlichen Faktoren für Komplexitätsmanagement erwähnt. Es sind

  • Differenzierung
  • Dimension
  • Tempo

Differenzierung

Die Frage nach Differenzierung ist die, ob ich die Materie tief und detailliert genug verstehe. Wenn Torsten Groth immer wieder betont, dass die entscheidende Frage für einen brauchbaren Umgang mit Komplexität ist die ist, wie wir sie reduzieren, dann liegt oft schon hier der Knackpunkt, dass nämlich der „Teufel im Detail“ liegt, welches schlichtweg nicht mit in die Überlegungen hineinbezogen wurde. Es braucht bisweilen eine gewisse Expertise, um Fragen zielführend beantworten zu können. Ich gebe mich nicht mit der erstbesten Hypothese oder Frage zufrieden, sondern ich recherchiere nach tiefer liegenden Hintergründen und Zusammenhängen. Ich schaue weder nur aufs soziale System noch nur auf das Individuum oder einzelne Interaktionen. Ich gehe nicht nur Alltagshypothesen oder persönlichen Beobachtungskritierien nach, sondern öffne meinen Blick auch differenziert theoriebegründet. Ich erinnere hier gern meinen alten Professor Josef Hochstaffl, der sagte "Man muss sich auch mal der Mühe des Begriffs unterziehen."

Dimensionierung

Die Frage nach den Dimensionen ist die, ob ich nicht eine einseitige Perspektive einnehme. Oftmals braucht es noch eine andere Dimension, eine andere Blickrichtung, eine andere Disziplin, um einer brauchbaren Lösung auf die Spur zu kommen. In der Prozessberatung mit reinem Blick auf die Kommunikationsstrukturen beispielsweise wird es manchmal deutlich, dass es auch noch andere Dimensionen für die Beantwortung einer Frage braucht. Wie sieht es wirtschaftlich, rechtlich, gesamtgesellschaftlich aus? Das ruft nach Komplementärberatung. Ich frage mich jedoch, wieviel Dimensionen ein einzelner Mensch in ausreichender Differenzierung bespielen kann. Was passiert, wenn wir eine Pandemie wie Corona beispielsweise ausschließlich mit der Dimension "Virologie" betrachtet, haben wir in den Anfängen der Coronazeit erlebt.

Tempo

Die Frage nach dem Tempo ist die der brauchbaren Handlungsfähigkeit. Wenn die Komplexität Richtung Chaos driftet, so brauche ich nach dem Cynefin-Framework eine schnelle Entscheidung – und sei es die schnelle Entscheidung, dass es hier gilt zuzuwarten. Will ich jedoch schnell eine Entscheidung in komplexen Situationen herbeiführen, dann müssen die Differenzierungen in den relevanten Dimensionen schon mal durchdrungen worden sein – in einer ausreichenden Gründlichkeit und damit Langsamkeit. Bestenfalls habe ich mir ein paar grundlegende, flexibel anlegbare aber ausreichend differenzierte Strukturen erarbeitet, auf deren Grundlage ich vieles schnell systematisch neu verknüpfen kann. Hier spielen auch Intuition und schnelles Denken eine Rolle.

Auf dieser Grundlage hat Gitta Peyn ihr Stufenmodell entwickelt, bei dem zum Schluss alle Kriterien gleichzeitig vorhanden sind.

Das Modell erinnert mich sehr an die Stufen der Ich-Entwicklung. Es ist als Modell der individuellen Entwicklung angelegt – und hat vor allem im Blick, wie ich als Einzelner mit Komplexität umgehen kann. Und genau an diesem Punkt möchte ich etwas ergänzen: Als Einzelne brauchen wir unbedingt, die Fähigkeit, sich mit anderen hoch differenzierten und dimensionierten und möglichst auch schnellen Komplexitätsmanagern zusammen zu tun. Warum? Weil wir in einem komplexen sozialen Umfeld auch eine soziale Komplexität brauchen. Ich erkläre es hier (angelehnt an meine Ausführungen in meinem Buch „Mut zu inner Work“ (https://link.springer.com/book/10.1007/978-3-662-68194-7?sap-outbound-id=1C3B626BB8B0E78A9469D397FB909B42FAF0E8E8) und nenne das Kriterium:

Diverse soziale Verbindungen

„Wenn wir keine gegengleiche Komplexität haben, sind wir nicht lösungsfähig.“, sagte Peter Kruse einst.

Der im Jahr 2015 verstorbene Berater und Honorarprofessor für Hirn- und Organisationsforschung sah eine Parallele zwischen der Vernetzung im Gehirn und der Vernetzung in Organisationen. Individuen können beispielsweise mit der Komplexität der Welt umgehen, weil das Gehirn selbst laufend dynamische Komplexität erzeugt. Soziale Systeme sind mit dem Gehirn vergleichbar. Auch dort braucht es störende Elemente, damit nicht einfach der Autopilot läuft. Kruses Meinung nach braucht es Spannung im System durch Unterschiedlichkeit, durch Querdenker, durch Komplexität. Neue Netzwerke sind wichtig für intelligente Weiterentwicklungen Harmonische Systeme sind seines Erachtens dumm, da sie Stabilität erhalten. Durch Netzwerke kommt es zu einer übersummativen Intelligenz – also Emergenz – die größer ist als die Intelligenz der Einzelnen. Die Komplexität und Dynamik der Systeme müssen mindestens so groß sein, wie die Komplexität und Dynamik in der Systemumwelt.

Dabei betont Kruse, dass es nicht nur im eine interne Diversität gehen kann, sondern, dass wir auch die Vernetzung nach außen suchen müssen. Widersprucherzeugende Störungen und Auseinandersetzungen, bleiben dabei nicht aus und wirken sogar förderlich, weil neue Ordnungsmuster nicht aus Harmonie entstehen. Harmonische Systeme sind dumm, formuliert er. Da Veränderung über Selbstorganisation geschieht, ist es wichtig, soziale Diversität zu verändern. Diversität dient evolutionär wie sozial dem Überleben im Wandel.

Für mich gibt es drei Kernbotschaften für das Thema Komplexitätsmanagement:

  • Ohne Differenzierung und Mehrdimensionalität werden wir Komplexität nicht gerecht.
  • Um diese in einem gewissen Tempo, quasi intuitiv zur Verfügung zu haben, um damit neue Kombinationen zur Lösungen generieren zu können, braucht es vorher eine gründliche, entschleunigte Zuwendung zu den Themen. Habe ich die nicht, so wird Schnelligkeit trivial. Hier scheint mir in vielen Fällen eine Überschätzung von Komplexitätsmanagementkompetenz vorzuliegen.
  • Ohne die soziale Fähigkeit zur Vernetzung - und deren Praxis - bleibe ich in sozial komplexen Herausforderungen unterkomplex.