Kreative Frustrationstoleranz

Eine Reihe über Kompetenzen und Haltungen für ein sinnvolles Arbeiten und Leben in einer komplexen Welt (7)

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In den letzten beiden Blogs ging es darum, dass wir als Führungskraft für das Überleben des Systems und für die psychologische Sicherheit aller manchmal zu unbequemen Entscheidungen kommen, die zu Enttäuschungen führen. In diesem Beitrag geht es darum, wie wir trotz des Frusts – den wir in allen Positionen in der Organisation immer mal wieder erleben - in der Handlungsfähigkeit und Selbstwirksamkeit bleiben.

Sich einlassen auf das Loslassen

Wenn ich das Wort Frustrationstoleranz in die Suchmaschine eingebe, dann kommen vorwiegend Bilder von Kindern, die ihren Willen nicht bekommen oder ein Spiel verloren haben. Es ist jedoch ein Trugschluss, dass nur Kinder ein Problem mit dem Unterschied haben, der manchmal zwischen Wunsch und Wirklichkeit liegt. In der Interaktion in frustrierenden Momenten geht es selbstverständlich bei Frustrationstoleranz auch um die Selbstregulation der eigenen Impulse – darum soll es jedoch hier nicht gehen (dazu gibt es erste Antworten im Blog zu Gleichmut). Bei schwerwiegenden Ent-täuschungen geht es viel entscheidender darum, im Loslassensprozess nicht in der Trauerspirale in einer der Stufen auf dem Weg zur Akzeptanz zu verharren. Wenn mir in der Organisation offenbart wird:  

  • der geliebte Standort wird gewechselt
  • das Personal wird gekürzt,
  • das komfortable Homeoffice wird gekürzt oder gestrichen oder
  • im Zuge der Umstrukturierung wirst Du keine Personalverantwortung mehr haben
  • oder, oder, oder

dann kann ich mir die Trauerphasen nach Elisabeth Kübler-Ross in Erinnerung rufen und mich fragen, wo ich stehe:

Phase 1: Nicht-wahrhaben-wollen, Leugnen, Abwehr

Phase 2: Wut, Ärger, Schuldsuche, Ungerechtigkeitsempfinden

Phase 3: Verhandeln, Kompromisssuche

Phase 4: Depression, Stille, Aufgabe

Phase 5: Akzeptanz, Loslassen, sich fügen

Nicht jeder Loslassensprozess ist mit einem Sterbeprozess zu vergleichen – dennoch tauchen solche Phasen auf. Je nachdem wie stark man an dem, was man verliert hängt und damit identifiziert ist, umso stärker wird die Reaktion sein. Solche tiefgreifenden Prozesse brauchen oftmals Zeit. Gleichzeitig kann ich, wenn ich mich in die Distanz begebe und aus der Metaposition auf mich und die Situation schaue, die Akzeptanz durch eine willentliche Entscheidung beschleunigen.

Der im ersten Jahrhundert nach Christus lebende Stoiker Epiktet beschreibt schon, welche Dinge in unserer Macht stehen und welche nicht – und dass wir uns auf die Dinge fokussieren sollen, über die wir Macht haben.

Daraus ergibt sich folgende Tabelle:

Epiktet

Die entscheidenden Entscheidungen sind:

  • Ich will das, was ich beeinflussen kann – und übernehme Verantwortung.
  • Ich will nicht (mehr) das, was ich nicht beeinflussen kann – und akzeptiere das.

Der Wille kann jedoch in einem echten Verlustprozess nicht rein kognitiver Art sein. Es geht hier um eine Entscheidung im Sinne Maja Storchs, eine Entscheidung, die Kopf und Bauch umfasst. Für mich ist das ein klarer Fall von Inner Work, d.h. ich gehe an die bindenden Hindernisse heran (vgl. www.transformation-companion.de). Die Gefühle, die an dem Alten festhalten, wollen gewürdigt, gehalten und gelöst werden bevor sie sich wandeln können.

Und erst dann, wenn ich bei der Akzeptanz angekommen bin, wenn die Energie nicht mehr im Hängen am Alten liegt, ist die Kraft für die Verantwortung für den eigenen Verantwortungsbereich da. Wenn der Blick dafür frei ist, kann sich Kreativität neu entfalten.

Gehen oder Bleiben? Das Checken der Zugehörigkeit

In Organisationen stellt sich nach starken Frustrationen bei Einzelnen oft die Frage: Gehe oder bleibe ich? Auf der Change-Tagung in Basel hielt Melanie German eine Vortrag über die Besonderheit der Generation Z – und dass dort die Frustrationstoleranz und das Durchhaltevermögen bei Unzufriedenheit niedriger liegt als in den älteren Generationen. Sie tragen weniger lange die Unzufriedenheiten – und haben in der Regel auch genügend Optionen zu wechseln. Dabei hat sie in dieser Generation kein geringeres sondern ein umso stärkeres Bedürfnis nach affektivem Commitment festgestellt!  Allerdings sind Mitarbeitende dieser Generation in Unzufriedenheiten häufig schon wieder weg, bevor das Bindungsgefühl entstehen kann – nicht zuletzt, weil sich nicht genügend um neue Mitarbeiter*innen im Sinne eines ganzheitlichen Onboardings gekümmert wurde.

Selbstverständlich muss auch das Geld stimmen – das kalkulatorische Commitment. Doch Zughörigkeit ist ein wesentliches psychologisches Grundbedürfnis eines jeden Menschen. Nach einer deftigen Enttäuschung stelle ich mir also die Frage nach meiner Bindung. Theresia Volk unterscheidet dabei unterschiedliche Ebenen: Soziale, professionelle und ideelle Zugehörigkeit. Ich frage mich also:

  • Wie stark fühle ich mich meinem Team, einzelnen Menschen in der Organisation verbunden? Inwiefern menschelt es dort im positiven Sinne?
  • Wie stark fühle ich mich meiner Profession verbunden? Inwiefern finde ich in der Organisation einen bereichernden Austausch mit Menschen meiner Profession, mit der ich mich identifiziere? Finde ich dort Menschen, die fachlich in ähnlicher Weise denken wie ich? Kann ich meine Profession dort weiter entwickeln?
  • Inwieweit kann ich einen sinnvollen Beitrag für das Team leisten? Inwieweit kann unser Team einen sinnvollen Beitrag für die Organisation leisten? Inwieweit kann unsere Organisation einen Beitrag für die Kundschaft und die Gesellschaft leisten? Fühle ich eine Zugehörigkeit im Hinblick auf den Auftrag und Sinn der Tätigkeit?

Dementsprechend stelle ich mir vor einer Entscheidung nach „Gehen oder Bleiben“ die Frage nach den Auswirkungen für mich im Hinblick auf diese Bindungsfaktoren. Die Organisation sollte genau diese Faktoren im Blick behalten und einen Rahmen bereithalten, in dem jene Zugehörigkeiten gedeihen und gepflegt werden können.

Was heißt in diesem Zusammenhang „Kreative Frustrationstoleranz“?

Es geht darum, den Horizont für die Möglichkeitsräume der Verbundenheit zu öffnen. Theresia Volk schlug auf der Tagung in Basel vor, einmal 6 Sätze – hier im Hinblick auf die Organisation – zu formulieren, die mit den Worten beginnen: „Genau wie ich …“, z.B.: „Genau wie ich, möchte die Kollegin xy dieses Ziel erreichen“ oder „Genau wie ich, denkt Kollege Z im Hinblick auf jenes Thema“ oder „Genau wie ich wird hadert die Chefin gerade mit jener Vorgabe.“

Damit legen Sie die Aufmerksamkeitsfokussierung nicht auf das Trennende, sondern auf das Verbindende. Das ist Ihre Entscheidung. Und danach können Sie unter einer geweiteten Perspektive die Frage nach dem Gehen oder Bleiben neu stellen.

Kreative Selbstwirksamkeitsräume finden und nutzen: Informalität und brauchbare Illegalität

„Es wird nichts so heiß gegessen, wie es gekocht wird“ heißt ein altes Sprichwort. Und schauen Sie mal auf das Bild zum Blog: Selbst in einem scheinbar geordneten Ganzen gibt es Nischen der Kreativität, in denen das zum Blühen kommt, was das Ganze lebendig hält. Unbewusst machen das wahrscheinlich alle in den Organisationen, in denen sie arbeiten: Das Beste daraus! Und dazu gehört es auch, einen möglichst funktionalen Umgang mit eingrenzenden oder auch ent-täuschenden Regeln zu finden.

Der Klassiker, der mir immer wieder in der Beratung begegnet, ist der Umgang mit Urlaubsregelungen. Der Urlaub eines Jahres MUSS bis zum 31. März genommen werden (und selbst diese Verschiebung ist nur unter dringenden Gründen möglich). Die Begründung liegt auf der Hand: Neben dem Schutz der Mitarbeitenden durch zeitnahe Regenrationsphasen geht es hier auch darum, dass nicht plötzlich jemand ein viertel Jahr Urlaubspause machen kann, und damit über den Zeitraum die Arbeitskraft nicht zur Verfügung steht. Diese gesetzliche Regelung ist also sinnvoll und arbeitnehmerfreundlich. (Als Selbstständige, die völlig frei von solchem Denken ist, beobachte ich, dass die Arbeitnehmer in der Regel genau die Anzahl der ihnen zustehenden Urlaubstage pro Jahr nehmen – es ihnen aber wichtig ist, dass am Jahresende Resturlaub übrig ist. Es handelt sich also nur um eine Verschiebung: Ich nehme statt die eigentlichen Tage für das Jahr noch die Resttage des letzten Jahres und lasse dafür ein paar Tage Resturlaub für das nächste Jahr stehen! Es muss etwas mit der Psycho-logik des „Sparens“ zu tun haben, also dass man noch etwas „in Reserve“ hat.)

In vielen Organisationen wird an diesen Stellen geschummelt. Ich denke da an eine Organisation, die gerade im März und April wichtige Abrechnungen zu tätigen hat. Die Verwaltungskräfte nehmen faktisch ihren Resturlaub erst in der Zeit danach. Offiziell werden die Urlaubstage jedoch für das erste Quartal eingetragen. Damit das Ganze jedoch nicht auffliegt, wird im Gesamtteam so gut organisiert, dass die Personaldecke kontinuierlich dicht genug ist. So wird man dem psychologischen Denken der Mitarbeitenden und der Organisation gerecht. Ich denke, der Vorgesetzte weiß um dieses Vorgehen – er ignoriert es einfach, weil es funktioniert – dabei handelt es sich um eine brauchbare Illegalität. Auch hier gilt „Dinge, die man ignoriert, sind Dinge, die man erlaubt.“

Jedoch finden wir auch einfach informelle Verhaltensweisen, die sich aus formellen Regelungen ergeben. Wenn es beispielsweise zu wenig Kommunikationsräume bei Veränderungsprozessen gibt, dann finden Mitarbeitende diese – das ist zwar nicht unerlaubt, aber nicht vorgesehen. Ich finde hier Phänomene von Stammtischen, informelle Videokonferenzen während der Arbeitszeit, die teilweise auch nur dem „Jammern“ über die Situation gelten. Räume zur Bearbeitung von Veränderungsprozessen sind sinnvoll – ungesteuert können sie für die Organisation jedoch sowohl konstruktiv als auch destruktiv wirken. Die Mitarbeitenden suchen kreativ einen Umgang damit – und finden ihn. So lebt die Kultur einer Organisation und bildet sich weiter aus.

Es gibt also immer auch jenseits der Strukturen, Regeln und Eingrenzungen kreative Möglichkeiten, um den Frust zu bewältigen – und die eigene Selbstwirksamkeit zu spüren. 

P.S.: Hier ein Interview zur brauchbaren Illegalität: https://versus-online-magazine.com/de/podcast/humanisierung-der-organisation/brauchbare-illegalitaet/