Bezogene Unabhängigkeit (Teil 1)

Eine Reihe über Kompetenzen und Haltungen für ein sinnvolles Arbeiten und Leben in einer komplexen Welt (5)

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Nein-sagen, klar unbequeme Realitäten benennen, eine Grenze ziehen – mit dem gleichzeitigen Ziel, mit den Menschen im Kontakt zu bleiben, darum geht es hier. Schauen wir uns um: Es gibt eine Menge Menschen, die Ihre Meinung und wichtige Ansagen zurückhalten, weil sie die möglichen Reaktionen fürchten. Das lässt Schädliches zu, welches wir verhindern könnten – und das verhindert not-wendige Entwicklungen.

Bezogene Unabhängigkeit – was kann ich mir darunter vorstellen?

Das Foto dieses Blogs hat Bäume im Blick - die für sich unabhängig erscheinen, über die Wurzeln jedoch in Kontakt miteinander sind und sich gegenseitig zum Überleben verhelfen (Peter Wohlleben) - sie können uns als Bild für das dienen, was hier gemeint ist. Bezogene Unabhängigkeit – so bezeichne ich das Ergebnis des Prozesses der „Bezogenen Individuation“ (Helm Stierlin), dem Erfahrungsprozess, in dem die beiden psychologischen Grundbedürfnisse nach Autonomie und Zugehörigkeit vereinbar werden. Zunächst: Ich unterscheide zwei „Grade“, bei denen diese Unabhängigkeit zum Zuge kommt:

  • Eine „beziehungserhaltende Enttäuschungskompetenz“ (Klaus Eidenschink) und
  • eine „um Beziehungserhalt bemühte Grenzziehungskompetenz“ (darum wird es erst nächste Woche gehen)

Beim ersten geht es darum, Wünsche zu versagen, beim Zweiten geht es darum, klare Grenzüberschreitungen zu benennen und damit umzugehen. Gemeinsam ist beiden, dass ich eine innere Unabhängigkeit brauche, um voneinander trennende Dinge klar an- und auszusprechen. Damit das Trennende nicht zwangsläufig zum Beziehungsabbruch führt, sondern optimalerweise sogar zu einem Verstehen führt, geht es darum, gleichzeitig Wohl- und Verstehenwollen dem betreffenden Menschen gegenüber mitzuliefern. Wir brauchen beides in der Kommunikation und in der Entwicklung von Systemen: Die Bezogenheit und die unabhängige Klarheit, mit der wir unser Werte und unser Ziel verfolgen.

Beziehungserhaltende Enttäuschungskompetenz

Diesen Begriff übernahm ich letztes Wochenende von Klaus Eidenschink auf der Change-Tagung der DGGO. Seither habe ich ihn in drei Beratungen eingesetzt (und die führenden Kräfte waren dankbar für den Begriff, der ihre Herausforderung benennt), denn ich arbeite viel in Kontexten, in denen großer Wert auf die Bedürfnisorientierung von Mitarbeitenden gelegt wird. Enttäuschungen werden gern vermieden… was dann zu einer zermürbenden Verschleppung von Unzufriedenheit durch eine unklare Gleichzeitigkeit verschiedener Erwartungen führt.

Enttäuschungen – wozu?

Systeme haben vorrangig ein Ziel: Überleben. Die Selbstorganisation eines jeden Systems ist darauf angelegt, ihrem Sinn entsprechend zu funktionieren. Es geht in Organisationen um eine „Vorausschauende Selbsterneuerung“ (Rudi Wimmer), die im Sinne des Überlebens der Organisation immer wieder herbei geführt werden will. Es stellen sich Fragen wie:

  • Wie muss das System sein, um das Ziel zu erreichen?
  • Was brauchen wir, um zu überleben?
  • Was muss sich dazu verändern? Welche Muster, welche Strukturen – ja vielleicht auch Prämissen?

Der Mensch mit seinen Beharrungstendenzen, mit seinem „Status Quo Bias“ – oder neurowissenschaftlich betrachtet, mit der Tendenz zum Energiesparen (Gerald Hüther) geht oft davon aus, dass vieles, womit man sich gut eingerichtet hat, was zur Komfortzone gehört, bleibt wie es ist – wie z.B. das Homeoffice in dem Maße wie zu Corona. Doch es kann sein, dass im Sinne des „Überlebens“ und des „gemeinsamen höheren Ziels“ eine Veränderung durch die Führung angestrebt wird. Das „Augenzudrücken“ vieler Führungskräfte ist hier nicht hilfreich. Es führt nicht selten zu Ungerechtigkeit im Team – weil einige geschickt auf ihre „Sonderrechte“ pochen, während andere im Sinne der Organisation handeln. Auch oder gerade, wenn sich eine ganze Organisationseinheit gegen eine zukunftserhaltende Neuerung stellt, gilt es klar zu bleiben.

Ent-Täuschung ist letztlich die Wegnahme der Täuschung. Es ist also doch nicht so, wie ich dachte. Ent-Täuschung ist immer auch ein kleiner Trauerprozess, weil es mit dem Verlust nicht nur von evtl. Komfort und Vorzügen verbunden ist, sondern auch mit dem Verlust eines bestimmten Bildes der Realität.

Beziehungserhaltende Enttäuschung – wie?

Zunächst schafft Transparenz Vertrauen. Wenn Neuigkeiten spruchreif sind, sollten sie ausgesprochen werden. Was die Leute angeht, können sie erfahren.

Dabei gilt es deutlich zu machen, welcher Partizipationsgrad hier vorgesehen ist. Sollen oder können hier die Mitarbeitenden mitentscheiden? Können Sie mitberaten? Oder ist es schlichtweg vorgegeben? Die Menschen im Glauben zu lassen, sie könnten mit entscheiden, ohne, dass das beabsichtigt ist, führt zu massivem Misstrauen.

Dennoch braucht es einen Gesprächsraum für die Bedürfnisse der Beteiligten. So kann sich die Trauer um das Alte wandeln. Vielleicht ist es danach möglich, das Alte eher loszulassen und auch die Chancen und nicht nur die Verluste der Veränderung zu sehen. Vielleicht wird so auch deutlich, dass die alten Strukturen, das alte Verhalten einen Preis hatte.

In der Regel ist die Führungskraft im Veränderungsprozess bereits weiter als die Mitarbeitenden. Auch als distanziertere Beraterin sehe ich mögliche nächsten Schritte bereits. Umso wichtiger ist es, das Tempo an meine mir Anvertrauten anzupassen und authentisch zuzuhören und in echte Resonanz gehen.

Es geht letztlich darum, den Widerstand zu würdigen. Und das nicht pro Forma. In jedem Widerstand steckt ein Schutzwall, der etwas Wichtiges schützen möchte. Was davon kann bewahrt werden? Welcher Wert davon kann integriert werden? Hier gilt es, in Beziehung zu sein und die Offenheit für Modifikationen.

Bezogene Unabhängigkeit – wie entwickele ich mich darin weiter?

„Der Mensch wird am Du zum Ich“ sagt Martin Buber. 

Eine erste Empfehlung in diese Richtung ist das Sich-Einlassen auf ein Miteinander, in dem ich meine Meinungen, Bedürfnisse, Impulse authentisch einzubringen und zu verhandeln versuche. Wie schaffe ich Ich zu sein im Wir? Wie schaffe ich, im Wir zu bleiben mit meinem Ich? Im familiären oder privaten Bereich gibt es für dieses Weiterlernen dessen, was wir in unserer Ursprungsfamilie mehr oder weniger gut erlernt haben, genügend Anlässe. Bei schwer auflösbaren Reibungen kann ich mich dabei professionell begleiten lassen (z.B. durch Paarberatung).

Im professionellen Kontext sind gut moderierte Teamentwicklungsprozesse eine Lernmöglichkeit. Einen besonderen Experimentierraum – fern von Alltagskontakten - bieten außerdem frei ausgeschriebene Fortbildungen mit Selbsterfahrungsanteil oder gruppendynamische Trainings.

In eigener Sache

Für mich als Beraterin ist die beziehungserhaltende Enttäuschungskompetenz eine wichtige Fähigkeit im Kontrakt – vor allem, wenn ich Workshops leiten soll, in denen im Change die Zeit und die Grundhaltung für den beziehungserhaltenden Teil der Enttäuschung nicht einkalkuliert wird. Hier fühle ich zur beziehungserhaltenden Ent-täuschung meines Auftraggebers aufgerufen: Für diesen Teil nehme ich die not-wendige Zeit und Würdigung in Anspruch.

Über meine Transformationsarbeit finden Sie mehr unter www.transformation-companion.de