Vital und verbunden – durch Schamresilienz

Eine Reihe über Kompetenzen und Haltungen für ein sinnvolles Arbeiten und Leben in einer komplexen Welt (4)

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Ich sitze hier und winde mich hin und her, um einen Titel zu finden, der „es“ beim Namen nennt und dennoch anschlussfähig ist. Soll ich öffentlich über Scham reden? Wie kommt das an? Wer will schon was über Scham hören? Ich überwinde hier meine Scham …

Alle Gefühle sind sinnvoll – wozu dient Scham?

Während die Grundgefühle Trauer, Freude, Angst und Wut sich nach außen richten, richtet sich Scham auf uns selbst. Scham empfinde ich vor mir selbst. Ich schäme mich – in Anbetracht des Außen. Wozu dient ein solches Gefühl?

Scham hat eine wichtige positive Bedeutung der Sozialisation. So lernen wir z.B. durch das Schamgefühl, das zu schützen, was verletzlich ist. Wir übernehmen selbst die Verantwortung dafür, was wir von uns zeigen möchten. In unserer Sozialisation lernen wir ferner durch Anpassungs-Scham, welche Erwartungen und Normen in einer Gruppe von Menschen herrschen. Ohne eine gewisse Anpassung an eine Gruppe erfahren wir keine Zugehörigkeit. Wir schämen uns ferner, wenn wir uns selbst und unserem Wertesystem etwas schuldig geblieben sind. Diese Scham ist eine „Gewissensscham“ (Stephan Marks). Diese hütet unsere Integrität, also das Gefühl, sich selbst treu zu bleiben. Diese drei Beispiele zeigen, dass ein gesundes Schamgefühl in unserer Entwicklung eine wertvolle Hüterin von Schutz, Zugehörigkeit und Integrität ist – drei wichtige psychologische Bedürfnisse. Die Scham wird geweckt durch eine Rückmeldung von außen. Als Kind nehmen wir diese bereits durch die Blicke unserer wichtigsten Bezugspersonen wahr. Erleben wir gleichzeitig die nötige Anerkennung der Bezugspersonen, kann sich eine gesunde Scham entwickeln. Eine Scham, die dazu führt, dass wir uns nicht schutzlos ausliefern, dass wir uns sozial und auch potential weiter entwickeln und die Befindlichkeiten des Gegenübers an uns heranlassen, die auch dazu führt, ehrlich in den Spiegel zu schauen und unsere Werte zu verfolgen.

Schamüberflutung – verschließt uns vor Verbindung und Entwicklung

Eine korrigierende Rückmeldung von außen, die nicht gleichermaßen mit Anerkennung gepaart ist, führt jedoch schnell zu einer Überflutung von Scham. Haben wir dies in der Kindheit in besonderer Weise erlebt, so kommt es zu einer pathologischen Scham, die uns in „abgrundtiefe Verzweiflung und Panik“ geraten lässt. Wir wollen im Erdboden versinken.

Um uns vor Scham zu schützen, bedienen wir uns, wie bei der Angst, unserer Schutzmechanismen. Wahrscheinlich kennen Sie solche Reaktionen: Um die eigene Scham nicht spüren zu müssen, werden andere beschämt. Dies kann durch Projektion (Du bist nicht O.K.), Arroganz (Überwindung eigener Scham durch protziges oder unverständliches Auftreten, welches andere in Selbstzweifel und Scham hinterlässt), Trotz, Wut und Gewalt (wandelt eigene Ohnmacht und Scham in Macht über andere, die sich für ihre Kleinheit schämen müssen) geschehen, ebenso wie durch Anpassung (unsichtbar machen, so dass ich mich nicht schämen muss), Ehrgeiz (der Versuch, keine Fehler zu machen) oder emotionale Erstarrung (der Schutz, des Nicht-mehr-Fühlens).

Sobald wir in der Abwehr sind, verlieren wir den Zugang zu unseren eigenen Emotionen und zum Gegenüber. Wir verlieren die Resonanzfähigkeit. Dass wir selbst verhindern sollten, Schamüberflutung bei anderen zu verhindern – gleichzeitig jedoch durchaus ein Feedback geben dürfen und sollen, bei welchem sich das Gegenüber potentiell auch im positiven Sinne schämt – das ist die Folgerung für diejenigen, die eine Rückmeldung aussenden. Eine absolut beschämende "Rückmeldung" ist übrigens das Ignorieren. Dabei gerät das Gegenüber in „Existenzscham“ – „ich schäme mich dafür, da zu sein“. Also: Innerhalb von Systemen ist die kritische Rückmeldung in anerkennender Bezogenheit der Vermeidung von Kontakt vorzuziehen.

Schamresilienz – ein förderlicher Umgang mit Scham

Brenee Brown, US-amerikanische Forscherin im Bereich der emotionalen Kompetenzen in Sozialer Arbeit und Management, hat den Begriff der Schamresilienz geprägt. Schamresilienz ist in ihren Worten

„die Fähigkeit, authentisch zu bleiben, wenn wir Scham empfinden, die Erfahrung durchzustehen, ohne unsere Werte zu opfern, und aus der Erfahrung von Scham mit mehr Mut, Mitgefühl und Verbundenheit hervorzugehen, als wir sie vorher empfunden haben.“

Es geht darum, die eigene „Bewaffnung“ (armored leadership) abzulegen, um in Selbstmitgefühl, Mitgefühl und Mut mit sich und seiner vollen Kraft in Verbindung zu sein.

Solange die Scham tabuisiert ist, wird es schwer möglich sein, einen konstruktiven Umgang damit zu finden. Ein doppeltes sich verbergen – die Scham über die Scham – verschließt uns umso mehr für den Zugang zur eigenen Entwicklung und die Verbindung zu anderen Menschen. Den Sinn der Scham zu erkennen und die Scham aus der negativen Bewertung zu holen ist dann hilfreich.

Schamresilienz als Zukunftskompetenz? Wozu?

Gesunder Stolz

Klaus Eidenschink hat in seinem Buch über narzisstische Nöte deutlich gemacht, dass es ohne das Gewahrwerden der Scham keinen Ausstieg aus der narzisstischen Not gibt. Ohne Schamresilienz bleibe ich an meinem geschönten Selbstbild hängen (mit falschem Stolz) und von ihm abhängig. Gelingt etwas nicht in dem Maße, wie mein Bild von mir es vorgibt, so muss ich mich vielleicht selbst so belügen, dass ich es glaube. Weitere Schutzmechanismen habe ich bereits oben beschrieben. Gesunder Stolz hingegen geht – auch wenn es paradox erscheint – durch Verletzlichkeit und Demut. „Ich bin nicht so großartig, wie ich annahm.“ Gesunder Stolz wurzelt im Selbstgewahrsam und der Selbstachtung. Darauf geschaut ergibt sich eine authentische Lebendigkeit in mir selbst („oh wie spannend, was sich da alles in mir regt“)– die eine eigene Entwicklungsmöglichkeit („es/ich könnte auch ganz anders sein“) birgt. Damit kann ich mich selbstbewusst weiter entwickeln und meine Potentiale in sozialen Kontexten zur Verfügung stellen.

„Scham setzt gerade dadurch eine Entwicklung in Gang, dass sie den erfahrenen Mangel nicht aufhebt, sondern bewusst macht.“ (Daniel Hell).

Empathie

Vereinfacht könnte man sagen: Schamabwehr verhindert Resonanzfähigkeit im Kontakt und fehlende Resonanzfähigkeit verhindert Einfühlung. Das Gefühl der Scham jedoch ist eine Kraft, die in Verbindung bringt. Nur, wenn ich Zugang zu mir selbst finde, wenn ich meine eigene Schamabwehr zum Fließen gebracht habe, komme ich in einen authentischen Kontakt mit dem Gegenüber. Denn: Wenn ich meine Scham anschaue, komme ich selbst auch in Kontakt mit meinen anderen Grundgefühlen wie Angst, Trauer, Wut und lustvoller Freude – ich werde also emotional kompetenter, lerne meine Gefühle zu spüren, zu benennen, diese und damit mich umso mehr anzunehmen.

Damit werde ich auch kritikfähiger und spüre auch, wo ich andere verletzt habe – besser noch: Ich nehme vorweg, wo ich andere verletzen oder aber bereichern könnte und steuere mein Verhalten entsprechend. Schamresilient können wir mehr zulassen – bei uns selbst und anderen - und werden einfühlsamer.

Glück

Mit Schamresilienz geht eine Bejahung meiner selbst und meiner Mitmenschen einher. Unabhängig davon, ob ich etwas gut finde, erkenne ich die Realitäten an. Die Folge ist etwas, was wir durchaus Liebe nennen können – Selbstliebe wie Mitgefühl. Ferner gehen mit Schamresilienz Entwicklungsmöglichkeiten einher, die ein weitaus höheres Potential haben als „besser werden“ in dem, was ich sowieso schon kann – denn ich schaue auf das, was bisher im Dunklen bleiben musste und eröffne damit neue Räume. Diese Entwicklung macht weit und enthält damit das Potential zu vitaler Freiheit in Verbundenheit. Wir stehen nicht mehr unter dem Druck des eigenen Selbstbildes, müssen nicht verzweifeln, wenn wir ihm nicht entsprechen. Wir haben nicht mehr die Not in Selbstherrlichkeit zu verfallen und sind in der Lage, zu unseren Fehlern zu stehen – gehen mit unserem Sosein in Verbindung.

Gesunder Stolz, Empathie und Glück – alles drei sind wahre Komponenten, um Zukunft zu gestalten.

Der Weg zur Schamresilienz

Der Weg zur Schamresilienz führt über das Zulassen der Scham. Dies geht nur in einem entspannten Zustand, in dem ich mich sicher fühle vor Schamüberflutung. Je nachdem, wie stark die Schutzmauer ist, kann das ein sehr tastender und langwieriger Prozess sein.

Nun könnte man meinen, ich könnte durch eine reine Mehrung von Selbstwahrnehmung zu Schamresilienz kommen: Ich ziehe mich zurück, reflektiere, erkenne meine Schutzmechanismen, bewerte sie neu und lasse etwas zu, was ich vorher geschützt habe. Doch behaupte ich mit anderen, dass etwas, was im sozialen Kontext entstanden ist – und das ist das Schamgefühl – auch einen sozialen Kontext braucht, um sich wandeln zu können. Diesen kann ich je nach Thema und Tiefe der Scham in einer wohltuende private Beziehungskonstellation oder aber im professionellen Kontext von Coaching oder Therapie finden.

Und in der Regel geschieht dies "en passant" – denn wer sagt schon von sich: Ich gehe jetzt in Kontakt um das förderliche Schämen zu lernen? Letztlich knüpft der Lernprozess zur Schamresilienz immer da an, wo ich an Grenzen im Miteinander stoße. Und dann geht es nur um Eines: Sich auf die mitfühlende Auseinandersetzung mit sich selbst und dem Gegenüber einzulassen.

Literatur zum Weiterschmökern (kurz und knackig benannt):

  • Brené Brown: „Dare to lead“ und „Verletzlichkeit macht stark“
  • Daniel Hell: „Lob der Scham“
  • Stephan Marks: Diverse Manuskripte zu Scham
  • Laurence Heller und Angelika Doerne: „Befreiung von Scham und Schuld“
  • Vivian Dittmar: „Gefühle und Emotionen“
  • Udo Baer und Gabriele Frick-Baer: „Vom Schämen und Beschämtwerden“
  • Klaus Eidenschink: „Es gibt keine Narzissten“
  • Andrea Hötger: „Mut zu Inner Work“