Stoischer Gleichmut

Eine Reihe über Kompetenzen und Haltungen für ein sinnvolles Arbeiten und Leben in einer komplexen Welt (2)

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Während ich während des Bahnstreikes Anfang Januar 2024 in einem Zug nach Frankfurt sitze, wo ich knapp drei Stunden Aufenthalt haben werde, bevor hoffentlich (!) die Reise weitergeht, überlege ich, welches eine wichtige Zukunftskompetenz ist, um mit all dem umzugehen, was ich NICHT selbst gestalten kann. Wie ich umgehe mit der Unverfügbarkeit des Lebens, die uns in den letzten Jahren auch in unseren Breiten umso bewusster geworden ist. Und da komme ich auf ein Wort, welches ich bei den Stoikern entnehme: Gleichmut.

Statt Ohnmacht oder vorschnellem Handeln

In der Beratung begegnen mir häufig Gefühle von Ohnmacht und Hilflosigkeit. Fachkräftemangel, Hackerangriffe auf digitale Systeme, Naturkatastrophen, politische Wirren – es gibt Grund genug dazu. Wir haben in den letzten Jahrzehnten vieles emporgebracht. Wir haben uns an das Gefühl der Machbarkeit gewöhnt – und oft haben wir klare Polaritäten im Kopf. Wer nicht sofort den nächsten Schritt weiß, wird schnell als unfähig, resignativ oder aussitzend abgetan. Agilität – die ja im Kern Anpassungsfähigkeit zum Ziel hat - wird oft mit schnellem Handeln assoziiert – eine grundlegende Anpassung jedoch braucht Zeit. In Führungstrainings ziehen wir schnell eine klare Linie: Wer kein Gestalter ist, wird schnell als Opfer gehandelt. Aktiv oder passiv. Entweder - Oder. Doch wir können viele Themen NICHT unmittelbar lösen und brauchen in diesen Kontexten eine akzeptierende Haltung, die weder resignativ passiv noch eine hektische nutzlose Energieverschwendung ist. Eine Haltung, die uns besonnen sein lässt für Lösungen innerhalb unseres Gestaltungsraumes. Gleichmut ist von außen erst einmal als gleichbleibende ruhige Gemütsstimmung zu erkennen – und ist weder sichtbar aktiv noch wirklich untätig - nämlich eine nicht-tätige innere Aktivität.

Gleichmut wozu?

Gleichmut befreit von dysfunktionalen Stressreaktionen und überhöhten oder einseitigen Vorstellungen. Er macht frei von Besorgtheit, Aufregung, vorschnellem Handeln, übermäßigem Verantwortungsgefühl und Identifikationen aber auch von Hochmut wie auch Minderwertigkeitsgefühlen. Im Gleichmut steckt mit der Akzeptanz des Gegebenen somit eine Möglichkeit zur Transformation. Sie enthält die Kraft der Selbstbestimmung, sich aus der Macht äußerer Zwänge zu lösen, bei einem scheinbaren Kontrollverlust durch äußere Ereignisse, dennoch Kontrolle über die eigene Verfasstheit zu behalten und eigene Entscheidungen zu treffen.

Gleichmut ist keine Gleichgültigkeit

Gleichmut unterscheidet sich deutlich von Gleichgültigkeit. Gleichmut ist keine Resignation oder totale Abschirmung.

In Gleichmut steckt nämlich auch das Wort Mut. Denn genau die Entscheidung NICHT sofort zu handeln, standhaft NICHT sofort eine Reaktion auf den äußeren Druck zu setzen, beinhaltet mutige Freiheit und Selbstbestimmung. So bleiben wir weit in Anbetracht einer scheinbaren Enge. Wir halten die Spannungen aus zwischen dem was ist und was sein sollte. Die Spannungen, die das ungute Gefühl mit sich bringt, welches durch das äußere Ereignis oder eben ausbleibende Ereignis mit sich bringt.

Echter Gleichmut – eine der vier Herzensqualitäten des Buddhismus - geschieht in vier Schritten, die ich hier frei nach Christian Stocker (2020) improvisiere:

  • Wahrnehmen, was das Geschehen in uns auslöst. In Gleichmut steckt nämlich auch das Wort Mut. Denn genau die Entscheidung NICHT sofort zu handeln, standhaft NICHT sofort eine Reaktion auf den äußeren Druck zu setzen, beinhaltet mutige Freiheit und Selbstbestimmung. Durch die reine Beobachtung und Wahrnehmung bleiben wir weit - in Anbetracht einer scheinbaren Enge. Wir halten die Spannungen aus zwischen dem was ist und was sein sollte. Die Spannungen, die das ungute Gefühl mit sich bringt, welches durch das äußere Ereignis oder eben ausbleibende Ereignis mit sich bringt.
  • Die Wertung relativieren. Hier geht es darum, kognitiv Abstand zu nehmen zur ersten Wertung, die wir zum Ereignis haben. Durch welche ganz andere Brille kann ich das Ereignis betrachten? Es könnte immer auch anders gewertet werden – und im Endeffekt auch ein Sinn in dem sein, was gerade ist, denn alles ist in Veränderung. Im Kleinen ist z.B. dieser Text dem Bahnstreik zu verdanken.
  • Aus der Irritation Kreativität erwachsen lassen. Bin ich erst einmal frei von der Wertung, so kann ich in Gelassenheit und aus neuen Perspektiven verschiedene Elemente der Ereignisse und des Kontextes neu kombinieren und zu ganz anderen Schlüssen kommen. Aus der Stressfreiheit durch die radikale Akzeptanz kann sich eine Lösungsenergie entwickeln, die auch Platz hat für echte „Narrenfreiheit“ im Sinne transformativer Interventionen.
  • Aufmerksamkeitsfokussierung auf das sinnvoll Machbare. Die Kraft für besonnenes Handeln kommt genau aus dieser stoischen Ruhe und dem Gleichmut, weil wir kognitiv in der Lage sind, uns auf unseren Einflussbereich zu fokussieren.

„Der Weg zum Glück besteht darin, sich um nichts zu sorgen, was sich unserem Einfluss entzieht.“ Epiktet

Die Stoiker haben klar, dass das Leben vergänglich ist. Man könnte sagen, dass sie versuchen „enkeltaugliche“ Lösungen zu generieren statt schnelle Patentrezepte. Da alles vergänglich ist, alles fließend (Pantha rei), haben wir keine Kontrolle über das, was im Außen geschieht. Epiktet rät uns deshalb, uns von äußeren Zwängen zu lösen und die Kontrolle über unser eigenes Leben durch unsere Gedanken zurückzugewinnen.

Wie kommen wir zu dem nötigen Abstand?

Die meisten Leser*innen wissen um Achtsamkeitstrainings als ein Instrument zur Einübung von Beobachtung ohne Wertung, die zu einem Abstand zu eigenen Reaktionen führt. Es ist jedoch sicherlich nicht die einzige Möglichkeit. Marc Aurel schreibt:

„Es steht dir frei, zu jeder Stunde dich auf dich selbst zurückzuziehen. Gönne dir das recht oft, dieses Zurücktreten ins Innere und verjünge so dich selbst“

Oft denke ich, wenn ich an der Listertalsperre die Angler beobachte, dass diese den Abstand auch ohne MBSR-Trainings hinbekommen. Doch ist es nicht die Entspannung allein, die letztlich zu Gleichmut führt. Meines Erachtens sind es zwei Elemente, die zur nötigen Selbstbestimmung führen: Die beobachtende Selbstwahrnehmung des Erlebens und die Selbstreflexion über das, was ich erlebe. Beides gemeinsam kann zu echter Transformation und letztlich zu zukunftsfähiger Innovation im Handeln führen.

Schauen Sie gleich nochmal auf das Foto zum Blog. Sebastian Purps-Padrigol empfiehlt in seinem Buch „Leben mit Hirn“ eine ganz einfache Übung, um in einem ersten Schritt einen Abstand und eine neue Perspektive auf Ereignisse zu bekommen. Es ist die Perspektive von einem entfernten Stern auf das äußere Geschehen. Stellen Sie sich vor, Sie wären auf einem Stern – dieses Foto ist ein Blick vom Mond auf die Erde. Wie würde man von dort aus das Problem sehen, welches Sie gerade beschäftigt? In welcher Relation stünde es? Diese Vorstellung und die Fragen sind vielleicht ein erster Schritt auf dem Weg zum Gleichmut.