Sinnieren über Sinn

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Am Ende des Jahres – die Zeit des Rückblicks und der Ausrichtung für das nächste Jahr – stelle ich mir die Frage, wie ich mich sinn-voll ausrichten kann. Als Privatmensch wie auch als Inhaberin eines Instituts und als Begleiterin von Entwicklungsprozessen in Organisationen.

 

Doch was ist eigentlich Sinn?

Sinn ist immer in Verbindung mit meinen Zielen zu sehen. Ich erlebe etwas als sinnvoll, wenn ich meine Ziele verwirkliche. Dies gilt für den Sinn meiner Alltagshandlung wie für den Sinn meines Lebens. Sinnvolles Leben ist meine Antwort auf das, was mir im Großen wie im Kleinen entgegenkommt. Es ist also nicht etwas allgemeingültig sinnvoll, sondern ich suche, bzw. mache mir meinen Sinn durch meine Ziele. Insofern ist es zwar sprachlich falsch zu sagen „etwas macht Sinn“, aber sehr wohl folgerichtig, zu sagen: „Daraus ergibt sich für mich Sinn.“. Ich selbst „mache mir den Sinn“, wie Karl E. Weick in seinem Konzept zum „sense making“ beschreibt.

Schade eigentlich! Gern hätte ich, dass jemand der Welt und mir nochmal in aller Deutlichkeit sagt, was gerade sinnvoll zu tun ist in der Welt… in Anbetracht von Krieg, Klimawandel, Ungerechtigkeit. Doch die Sinnantwort kann ich nur selbst finden – und vor allem, niemandem befehlen.

Ist Sinn also beliebig?

Alle von mir aufgefundenen Autoren, die sich mit Sinn beschäftigen, unterstellen dem Menschen einen „Willen zum Sinn“. Allen voran Viktor Frankl, der Begründer der Logotherapie und Existenzanalyse, der vier Konzentrationslager überlebt hat. Und, ja, die Sinnfrage liegt im Bereich der Freiheit eines jeden Menschen.

Die Empirie (Alexander Batthyány) gibt mir jedoch eine Antwort darauf, was zu Sinnempfinden in aller Regel NICHT ausreicht: Als Freundin der Neurowissenschaften weiß ich um die Kraft der Motivation durch Lustempfinden. In den älteren Hirnschichten werden schnelle Entscheidungen nach dem Prinzip des Gefallens getroffen. Lustgewinn und Unlustvermeidung ist da die Devise. Wohlbefinden. Das allein, so sagt, Batthyány, scheint für die wenigsten Menschen die Definition eines sinnvollen Lebens zu sein. Ein sinnvolles Leben ist für die meisten Menschen ein Leben, welches - und jetzt schaue ich wieder neurowissenschaftlich darauf - nicht nur die überlebenswichtigen älteren Hirnschichten, sondern für bewusste, sinnvolle Entscheidungen auch die Vernunft des evolutionär später hinzugekommenen Neocortex`. Nur wenn ich willkürlich entscheide, bleibe ich Regisseur*in des Lebens. Oder, wie die Achtsamkeitsforschung sagen würde: Ich unterbreche BEWUSST den unwillkürlichen Reiz-Reaktionsprozess, um mich nach meinen Zielen auszurichten. Batthyány beschreibt die Motivation der untersuchten Menschen als eine, „die über ihre unmittelbaren physisch und psychosozialen Interessen hinausgeht.“ (Devivre 2021, 68).

Es geht unterm Strich also darum, das Beste in sich selbst und in der Welt hervorzurufen und in dem vorhandenen Kontext zu verwirklichen.

Was bewirkt der Wille zum Sinn?

Der Wille zum Sinn, zu einem sinnvollen Leben gibt uns eine starke Handlungsmotivation. Die Sinnfrage ist dann für den Menschen hilfreich gestellt, wenn ich mich nicht Frage, was um mich herum „Sinn macht“, sondern, was für mich sinnvolles Wirken ist. Allein darum schon ist die Sinnperspektive eine psychologisch hilfreiche – denn sie bewirkt Selbstwirksamkeit statt Ohnmacht.

„Wer ein Warum zum Leben hat, erträgt fast jedes Wie“, so sagt Nietzsche. Gerade in Krisen ist Sinn ein wesentlich haltgebender Aspekt. Die Salutogenese nennt neben Verstehbarkeit und Handhabbarkeit die Sinnhaftigkeit als wesentliche Basis Kohärenzgefühl als haltgebendes Gefühl der Stimmigkeit. Es dient folglich der Gesundheit und Resilienz.

Sinn – eine menschliche Kategorie

Menschen sind geschichtliche Wesen in dem Sinne, dass nur sie Vergangenheit reflektieren und sich Zukunft vorstellen können. Viktor Frankl nennt zudem zwei wesentliche Aspekte, die zum Menschsein gehören: Selbstdistanz und Selbsttranszendenz.

„Es gibt zwei spezifisch menschliche Phänomene, durch die die menschliche Existenz charakterisiert wird. Das erste ist die Fähigkeit des Menschen, sich von sich selbst zu distanzieren. Eine weitere Fähigkeit des Menschen ist die Fähigkeit zur Selbsttranszendenz. Tatsächlich ist es ei konstitutives Merkmal des Menschen, dass es immer auf etwas anderes als auf sich selbst hinausweist und gerichtet ist… Nur in dem Maße, wie jemand diese Selbsttranszendenz der menschlichen Existenz lebt, ist er wirklich menschlich und zeigt sein wahres Selbst.“. (Viktor Frankl)

Die oft vernachlässigte Unterscheidung zwischen Sinn und Zweck – oder „Was ist Purpose?“

Es ist zu beobachten, dass oftmals die Frage nach Sinn und der Purpose, der Unternehmenszweck, verwechselt werden. Das führt zu einer großen Frustration, wenn Mitarbeitende denken, sie könnten dem Unternehmen z.B. in einem Workshop den Sinn „geben“ – in der Praxis es jedoch darum geht, die (Über-)Lebensstrategie durch die Zweckdefinition zu sichern. Hier gilt es meines Erachtens gut zu unterscheiden, was in Wahrheit beabsichtigt ist: Die Definition des Unternehmenszwecks oder die gemeinsame Sichtung der – wie ich inzwischen gelernt habe – INDIVIDUELLEN Sinnperspektiven.

Sinn in Organisationen ermöglichen statt zu verhindern

Gleichzeitig ist es wesentlich für Unternehmen, dass die Mitarbeitenden Raum für ihre Sinnverwirklichung bei der Arbeit finden. Auch unabhängig von humanistischen Überlegungen ist es gerade in herausfordernden Zeiten entscheidend für die Motivation und den Zusammenhalt der Mitarbeitenden, wenn Sie ihre Arbeit als sinnvoll erleben. Da stellt sich die Frage, ob die Führungskraft die Sinnfindung eher ermöglicht oder behindert.

Wenn wir uns nur darauf fixieren, bessere Kennzahlen zu erreichen, so werden wir dauerhaft daran gehindert, auf die Herausforderung der Situation zu schauen. Dies erlebe ich oft im Gesundheitswesen, wo die Frustration des Pflegepersonals darin besteht, dass sie aufgrund der zeitlichen und finanziellen Vorgaben keinen Sinn mehr in ihrer Arbeit sehen. Dieses „homo oeconomicus“ Verständnis sabotiert den Sinnwillen des Menschen, so der Sinn-Forscher William Damon. An dieser Stelle können wir gut Parallelen zum New Work-Gedanken (Bergmann) oder zu Reifemodellen in Organisationen (Laloux) ziehen, die uns zu einer Evolution in Richtung sinn-vollem Arbeiten einladen.

Organisationen und insbesondere deren Führungskräfte können eine Kultur des Sinns aufbauen, indem sie bedeutungsvolle Ziele vorschlagen, die sie selber leben und deren Umsetzung erleichtert wird. Dabei können verschiedene Ebenen der Sinnverwirklichung in den Blick genommen werden:

  • Die individuelle Ebene: Kann ich hier meine individuellen Ziele verwirklichen? Die können die Ziele bei der Arbeit sein, es kann sich jedoch auch um Ziele gehen, die die Arbeit eher tangieren, wie z.B. die Vereinbarkeit von Privatleben und Beruf – ein Ziel, welches die Generation Y und Z statistisch oft vorzuweisen hat.
  • Die Herausforderungen der Gemeinschaft am Arbeitsplatz: In welcher Art der Kooperation sehe ich hier Sinn? Wie definieren wir unsere Zusammenarbeit? Ermögliche ich hier Sinnfindung?
  • Die Organisation im Kontext der Gesellschaft: Inwiefern wird verstehbar und kommuniziert, welche Bedeutung, welchen Sinn die Arbeit der Abteilung für die Menschen hat? Gibt es Raum, sich diesen Sinn anzueignen und evtl. sogar einander Sinnmöglichkeiten zu eröffnen?

Kernelemente von Selbst-führungskompetenz mit Sinn

Alex Pattakol, Mitbegründer des Global Meaning Institute, hat Kernkompetenzen zu sinnvoller Führung formuliert, die für mich als Führungskraft wie auch zur Selbstführung Sinn ergeben.

  • Die Freiheit zu nutzen, die eigene Haltung zu wählen.
  • Den Willen zum Sinn erkennen, d.h. sich zu Werten und Zielen bekennen, die nur der einzelne Mensch erfüllen kann.
  • Den Sinn des Augenblicks suchen – und dazu in Handlung zu gehen.
  • Sich selbst aus der Distanz betrachten.
  • Die Verlagerung der Aufmerksamkeit auf die Bewältigung von Situationen statt auf das Problem selbst.
  • Über sich selbst hinausgehen – sich auf etwas beziehen, was in der Welt, außerhalb meiner Selbst ist.

Für mich heißt das für das kommenden Jahr, dass ich weiterhin gut meine eigenen Lebensziele und denen untergeordnet meine privaten Ziele und die für bilden&beraten im Blick behalte und mich danach ausrichte.

Fazit:

Wie sagt man in christlichen Kreisen manchmal salopp: „Mach´s wie Gott – werde Mensch!“ -und das ganz besonders zur Weihnachtszeit.

Ich wünsche uns allen zu Weihnachten, dass wir unsere menschliche Würde und Freiheit annehmen und uns in Selbstdistanz kritische Fragen stellen, um unsere Frage nach dem Sinn zu beantworten und danach in unserer Welt zu handeln.

In diesem Sinne wünsche ich allen „Frohe Weihnachten!“

Als Grundlage meiner Recherchen wählte ich das 2021 erschienene Werk von Beate von Devivre: „Sinn und Arbeit. Antworten zur Sinnsuche im 21. Jahrhundert – Viktor Frankl und andere“ aus dem Springer Verlag.