Loslassen führt zu Schmerz, Festhalten führt zu Leid

Transformationsbegleitung (10) 

bird 4313897 1280

Dieser Satz aus Klaus Eidenschinks "Verunsicherungsbuch" lässt mich als Begleiterin von Veränderungsprozessen länger innehalten. Es gab sofort ein inneres „Ja!“ bei mir: genau dieser Unterschied, der hier gemacht wird, ist aus meiner Erfahrung heraus wesentlich. Dabei scheinen die beiden Botschaften als solches nicht neu – jedoch die Gegenüberstellung der beiden Aussagen. Und: Diese Aussage hat Folgen für einen Coach in der Begleitung von Transformationsprozessen.

Der Unterschied zum üblichen Lebenshilferatgeber

Was sich von den gängigen Ratgebern unterscheidet, ist, dass beiden Alternativen „Loslassen“ und „Festhalten“ eine unangenehme Befindlichkeit zugeordnet wird. Üblicherweise wird in der Veränderungsliteratur dem Loslassen ausschließlich die positiv konnotierte Freiheit zugesprochen: „Wer loslässt, hat die Hände frei“ – so oder so ähnlich lauten die Titel der Aufmunterer.

Wenn ich in meinem Buch zur Transformation Mut zu Inner Work davon spreche, dass auf dem Weg zur Transformation Hindernisse zu überschreiten (vielleicht ist „durchschreiten“ das noch bessere Wort) sind, dann geht es genau um diese schmerzhaften Gefühle von Angst, Trauer und/oder Wut, denen wir auf dem Weg zu der Erweiterung unserer Möglichkeiten begegnen.

Loslassen und zulassen

Als ich noch im alten Jahrtausend als Bildungsreferentin einer Heimvolkshochschule unterwegs war, „erbte“ ich von meiner Vorgängerin den von mir zu füllenden Vortragstitel „Altes loslassen – Neues zulassen.“ Damals verband ich das Loslassen mit den Trauerphasen von Elisabeth Kübler-Ross und wie diese auf das Loslassen in Krisen oder anderen tiefgreifenden Veränderungsprozessen zu übertragen sind.

Aus systemtheoretischer Sicht ist dieser Titel „Altes loslassen – Neues zulassen“ nichts anderes als der Hebel für Veränderung: Musterunterbrechung bzw. die Einführung eines neuen Musters. Ist dieses Muster emotional stark verankert, geht der Weg zur Musterveränderung über die Gefühle von Verlust und Schmerz.

Eine wichtige Aufgabe des Coaches im Transformationsprozess

Den Weg durch bislang vermiedene unangenehme Gefühle zu begleiten, sehe ich als Aufgabe des Coaches - wenn das Ziel ist, der durch die Vermeidung verhinderten Freiheit zur Bedürfnisbefriedigung und damit zur Persönlichkeitsentwicklung zur Entfaltung zu verhelfen. Dazu gehört es als Coach, von sich selbst zu wissen, welche Gefühle ich gern vermeide – und achtsam dafür zu sein, nicht durch das eigene Schutzbedürfnis den Weg durch die unangenehmen Gefühle des Loslassens beim Coachee zu verhindern.

In der Beziehung zum Coach kann der Coachee – so der Idealfall – eine neue Erfahrung machen: „Ich habe Angst und diese darf auch sein. Die Angst vor dem Neuen ist erträglich! Die Trauer um das Alte kann ich aushalten – und brauche mich dessen auch nicht zu sehr zu schämen – sie trifft auf Resonanz! Die Scham über meine Begrenztheit wird nicht ausgenutzt, nicht zur Überflutung geführt, sondern gehalten.“ Dabei hilft die eigene Selbsterfahrung des Coaches, echte Gefühle von „vorgeschobenen“ Ersatzgefühlen zu unterscheiden und begleitet den Coachee.

Ich erinnere noch einmal an die oben genannten Trauerphasen (die inzwischen in alle möglichen Varianten von Veränderungskurve übertragen worden sind). Darin wird deutlich, dass das zumindest kurzfristige Festhalten als Durchlaufphase zum Loslassen und zur Aktzeptanz dazugehört – in Form des „Nicht-wahr-haben-wollens“. Wer die darauf folgenden Phasen von Zorn und die Depression aus Angst vor dem dazugehörigen Schmerz vermeiden will, kann im „Nicht-wahrhaben-wollen“ – also im Festhalten am Alten verharren.

Was halten wir fest?

Es ist hierzulande selten das Außen, was zu Leid führt. Selbst schwere Krankheiten oder Schicksalsschläge führen nicht zwangsläufig zum dauerhaften Leiden. In der Regel geht es beim leidvollen Festhalten um das Festhalten von Einstellungen und Glaubenssätzen. Es geht oft um das Festhalten von Erwartungen und Vorstellungen, wie jemand oder etwas zu sein hat. Es geht um das Festhalten von Interpretationen, Ideologien und Absolutheitsansprüchen, die mich im Recht sein lassen. Da wird schon deutlich, wozu das Festhalten dient: Es dient dem Gefühl von Sicherheit und Orientierung.

Ursachen des Festhaltens sind oftmals frühe schmerzhafte Erfahrungen – nicht zuletzt bei dem Versuch, Bedürfnisse zu befriedigen. Vielleicht wurde das Bestreben nach Autonomie, nach Zugehörigkeit, nach Selbstwirksamkeit, Stimulus von außen oder Wachstum oder nach Strukturen in irgendeiner Weise sehr schmerzlich bestraft.

Die Festigkeit des Altbekannten und daraus abgeleiteter Sicherheit ist jedoch eine Illusion. Alles ist im Prozess. Alles, was uns sicher erscheint, ist der Erfahrungswert davon, dass sich etwas immer wieder aneinanderreiht, sich immer wieder ereignet. Sei es in Gedanken oder im Verhalten. Die Wahrnehmungsverzerrung des Confirmation Bias, der Bestätigung dessen, was ich für richtig halte, hilft mir bei meiner Sicherheits- und Festigkeitsillusion. Denn wir können nicht verleugnen: Es könnte immer auch anders sein. Alles ist kontingent. Doch im praktischen Alltag ist diese Tatsache oft überfordernd. Wir tun so, als ob es fest wäre. Oder, wer als Retter und Held in Erscheinung treten will, wirbt damit, dass er „Recht und Ordnung wieder durchsetzen“ könne.

Im Alltag begegnen uns oft Begriffe, die auf Festhalten hinweisen. Jemand ist auf jemanden fixiert. Oder jemand ist jemand anderes auf den Leim gegangen – und klebt jetzt fest daran. Jemand klammert sich an etwas oder jemanden – z.B. an den letzten Strohhalm der Hoffnung. Jemand ist an etwas gebunden – fühlt sich verpflichtet. Und immer wieder das Wörtchen „muss“ scheint eine Verbindungsverpflichtung zu beinhalten, die jegliche Freiheit ausschließt. Aber auch die Beharrlichkeit – so hilfreich sie oft sein mag – kann eine Halsstarrigkeit beinhalten, die jegliche Kontingenz ausschließt. Manche Menschen sind miteinander verfilzt. Oder, wie es in der Achtsamkeitsliteratur oft benannt wird – es gibt Anhaftungen.

Ich sage damit nicht, dass Sicherheitsillusionen und Festhalten grundsätzlich verwerflich sind. Es stellt sich die Frage, ob sie funktional sind. Und das sind sie durchaus oft für bestimmte Zeiten oder Orte. Je nach Kontext und Situation kann es jedoch sein, dass die alten Sicherheiten tiefliegende Bedürfnisse unterdrücken, den Menschen unfrei machen – und dass es so zum Leiden kommt. Dann sind diese Illusionen dysfunktional.

Schmerz oder Leid?

Was mich am längsten beim o.g. Zitat hat innehalten lassen, ist das Hineinhorchen in mich selbst. Wie fühlt sich Schmerz an? Wie Leid? Und ich konnte sofort einen Unterschied in Verbindung mit den beiden Worten spüren:  Schmerz ist akuter. Schmerz kann sehr heftig sein – er vergeht jedoch wieder. Leid bestimmt meine Grundstimmung – wie eine Grundfarbe, die mein Lebensgefühl determiniert.

Es stellt sich die Frage: Ist die Freudlosigkeit, Getriebenheit, Einsamkeit, Traurigkeit, Wut, Angst oder die Starre eine Momentaufnahme, die sich wieder verflüchtigt? Oder hat sie sich leidvoll eingegraben in meine Befindlichkeit und bestimmt auch weitestgehend Kontexte, die sich nicht mit einem aktuellen Auslöser in Verbindung bringen lassen? Ist das Grundgefühl stimmig zur Situation?

Zu mehr innerer Freiheit gelangen

Gerade, wenn grundlegende echte Bedürfnisse durch alte schmerzhafte Beziehungserfahrungen schon lange vermieden werden, sind neue, haltende Beziehungserfahrungen der Weg zu neuen Möglichkeiten. Ein passendes Gegenüber dazu könnte ein professioneller selbstreflektierter Coach sein. Dieser geht in Kontakt und kann Gefühle halten. Und er kennt die Grenzen und Möglichkeiten seiner Rolle.