... wie Hänsel und Gretel ...

Transformationsbegleitung (4) 

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Vom Unsichtbarmachen zur Beanspruchung von Wichtigkeit

Wie versprochen schaue ich heute auf Teams, die ihr Potential nicht leben, weil sie als Team in einer Weise geführt wurden und werden, dass sie sich nicht entwickeln konnten. Sie wurden „traumatisiert“ im Sinne eines Bindungs- und Entwicklungstraumas. Heute stelle ich eine Variante davon vor, in der das Kernbedürfnis von „Kontakt“ nicht gegeben ist.

„Sie erinnerten mich an „Hänsel und Gretel“, dieses Team: Völlig allein gelassen. Lost. Vor Herausforderungen des Überlebens – ohne auch nur die Hoffnung auf Hilfe zu haben. Vielleicht noch gerade so viel, dass man Steinchen oder Brotkrumen auf die Fährte legt. Mehr nicht. Es war ein Team aus einem Sozialen Dienst in einer Verwaltung. Die einzelnen Mitarbeitenden nahmen sich kollegial sinnbildlich bei der Hand, gingen Schritt für Schritt und sorgten für Ihr Überleben. Was sonst sollten sie tun?“

In diesem Team von welchem mir in der Intervision berichtet wurde, sah sich die die zuständige Führungskraft bereits für den Kontrakt nicht verantwortlich. Die Beraterin solle einfach dieses Team begleiten. Supervision sei schlicht Standard. „Da halte ich mich raus.“ war die Antwort der Führungskraft. Auch zu einer Zwischen- oder Endauswertung schien sie nicht bereit.

Im Kontext von Entwicklungs- und Bindungstraumata (NARM®) spricht man von dem Kernbedürfnis nach Kontakt als grundlegendstes und frühstes Kernbedürfnis. Das psychologische Grundbedürfnis von Zugehörigkeit verlangt nach Kontakt – auch als Team. Dieses Team hatte nicht den Eindruck, dass sie willkommen waren. Es wurde immer mal wieder in Rundschreiben erwähnt, dass dieser Bereich kostenintensiv sei. Bei Sparmaßnahmen traf es sie schnell. So z.B. bei Bürozusammenlegungen. Homeoffice war erlaubt und wurde in keiner Weise auf Sinnhaftigkeit diskutiert – wer nicht da ist, braucht auch keine Büroressource. Nun gab es aktuelle Herausforderungen: Die praktische Arbeit mit dem Endkunden erledigten in der Regel Honorarkräfte – die jedoch immer rarer wurden. Insofern gab es große Sorge, die Arbeit nicht mehr bewältigen zu können. Doch Forderungen stellen? Das schien unmöglich. Das Problem ansprechen? Ist schon geschehen – wurde nicht gehört.

Das Team fühlte sich

  • nicht willkommen – mal gerade not-wendig, weil diese Arbeit nun mal in den Zuständigkeitsbereich der Verwaltung fiel
  • fühlte sich nicht gesehen: es gab keine Feedbacks
  • fühlte sich nicht in die Gesamtstruktur eingebettet: Es gab keine nennenswerten Meetings
  • absolut allein gelassen
  • unsicher im Hinblick auf die bevorstehende Zukunft – ohne eine Idee von Hilfe

Nun hat so etwas immer eine Geschichte. Es hat einerseits etwas mit der Geschichte von Führung auch in der Vergangenheit in diesem Bereich zu tun. Ferner ist die Führung der Führung absolut wesentlich, stellt sich doch die Frage, wie man eine solche kontaktlose Führung zulassen kann. Man könnte auch auf die Kultur und den Reifegrad der Organisation im Gesamten schauen. Und es hat etwas mit dem Recruiting zu tun, in dem Sinne, wie man sich präsentiert als Organisation und welche Personen mit entsprechenden Vorprägungen sich hier wiederfinden. Falls die Organisation dort jedoch eine Entwicklung wünscht und sie auch von außen angetrieben wird, halte ich jedoch selbstverständlich Entwicklung auch für möglich.

Die Kollegin, die diesen Fall in die Intervision einbrachte, fragte sich, was sie denn ausrichten könne. Und es wurde schnell deutlich, dass sie – gerade, weil sie einen Endloskontrakt hatte – die Funktion des Containing innehatte: Sie sorgte für das Aufnehmen der Emotionen, für Kontakt und Sicherheit und förderte den Zusammenhalt innerhalb des Teams. Sie übernahm also einen Teil der Führungsaufgabe und wirkte somit systemstabilisierend auf dieses Team. Halten statt Veränderung (hierauf komme ich ganz am Schluss noch zurück).

Die Traumatheorie beschreibt zwei Arten der Reaktion auf dieses „Verlorensein“ im Kontakt. Weil jeder Mensch ein Gegenüber braucht, können wir das Gegenüber nicht völlig schlecht machen. Wir sind ja auf es angewiesen! Also suchen wir das Defizit bei uns. Wir denken also, dass wir nicht gut genug, nicht wichtig genug sind. Wir denken, dass wir selbst keine Daseinsberechtigung haben – sonst würden wir ja beachtet. Und durch diese Schutzreaktion kommt es zu zwei Möglichkeiten der Identifizierung:

  1. Auf Scham basierende Identifizierungen: Wir sind voller Angst und verschreckt. Wir haben immer das Gefühl nicht dazu zu gehören und kein Recht, keinen Anspruch auf irgendetwas zu haben. Wir haben Sorge, jemanden zur Last zu fallen und agieren nur rein funktionell – so dass wir nicht auffallen oder gar stören. Wir sorgen lediglich für unser Überleben.
  2. Auf Stolz basierende Identifikationen: Wir halten uns für etwas Besseres, weil wir so genügsam und altruistisch sind. Selbstgerechtigkeit. Wir werten diejenigen ab, die gern bei der Autorität etwas fordern, sei es Materielles oder Emotionales.

Sie merken schon, dass diese Identifizierungen durchaus nicht nur bei Individuen sondern auch in Organisationseinheiten vorkommen – und sie könnten ein Zeichen für genau diese Überlebensstruktur bei absoluter Unterversorgung von Kontakt durch die Führungskraft sein.

Das Team aus dem Beispiel lebte in erster Linie die auf Scham basierten Identifizierungen. Als jedoch ein neues Teammitglied kam, welches Forderungen stellte und die Nähe zum Chef suchte, dauerte es nur die knappe Probezeit lang, bis diese das Team wieder verließ – und das nicht nur, weil ihre Forderungen nicht erfüllt wurden, sondern weil das Team diese neue Person mit dieser so anderen Struktur nicht ins Team ließ. Diese neue Mitarbeiterin wurde nicht als Chance, sondern als Verräterin der Ideologie der Bescheidenheit gesehen. Insofern spielte hier auch der Stolz eine Rolle.

Welche Interventionen sind hier förderlich?

Ganz offenbar ist das Überleben der Organisation nicht von diesem Team abhängig. Meine These ist: Solange hier niemand aus dem Führungskreis eine gewisse Spannung erlebt, so wird sich nichts Grundlegendes ändern. Die Veränderungskraft muss auch von der Führungskraft ausgehen. Eine Graswurzelinitiative scheint hier aufgrund der sich entwickelten Identifizierungen nicht möglich. Der Veränderungsdruck sollte also für die entsprechenden Führungskräfte spürbar werden – um dann mit einer Haltung von Verantwortung für das Team zu neuen Verhaltensweisen zu kommen. Ich denke, jeder Leser, jede Leserin hat eine Idee von den wünschenswerten Handlungen in einem solchen Fall. Diese würden sich letztlich auch in den Strukturen und der Kultur ausdrücken. Feedback und transparente wie auch kreative Besprechungsformate wären an der Tagesordnung. Eine gewisse Präsenz der Führungskraft wäre selbstverständlich. In einer solchen Organisation fänden sich dann zunehmend auch selbstbewusstere, konstruktiv fordernde Mitarbeitende.

Als Beraterin stellt sich die Frage nach meinem Auftrag: Bekomme ich einen Auftrag für die Begleitung eines Changes in der Organisation, so habe ich viele Ideen, die sicher auch tragen könnten, wenn Führung mit im Boot ist. Bei anderer Führungsverantwortung könnte ein Team sich dahin entwickeln, dass es die eigene Wichtigkeit wahrnimmt und auch beansprucht: Sowohl durch konstruktive Forderungen als auch durch kreative Ideen wie auch Kooperationsformen im Netzwerk.

Solange jemand ausschließlich als Supervisorin für das Team zuständig ist, stellt sich die Frage, ob ich den Auftrag der Systemstabilisierung so annehme, ob ich ihn modifiziere, in dem ich Führung mehr in die Pflicht nehme oder ob ich ihn generell ablehne.

Allerdings kann ich im Einzelfall sehr wohl wirksam sein mit dem bloßen Halten der Emotionen und dem Stärken des Miteinanders – wer weiß, was sich bei Einzelnen oder vielleicht gar in der Teamkultur verändern kann, wenn sich dann auf Dauer bei genügend psychologischer Sicherheit innerhalb der Supervision für die Teammitglieder Möglichkeitsräume im Denken und Handlen eröffnen. Es könnte allerdings sein, dass damit dann auch Kündigungen verbunden sind – und letztlich ich als Beraterin für diese Organisation nicht mehr tauglich bin.

Das Buch zu Inner Work:

Mut zu Inner Work. Die Hindernisse zur Transformation überschreiten.

Der Podcast dazu:

Lea Podcast mit Andrea Hötger und Christina Grubendorfer

Meine Inner-Work-Beratungen und Fortbildungen:

https://www.transformation-companion.de/

Zum Weiterlesen:

Volker Hepp: Drei Formen von Organisationstraumata. In: Hartung, Stephanie: Trauma in der Arbeitswelt. Springer Gabler 2018.

Alles von Laurence Heller zu Entwicklungstraumata.